Donnerstag, 15. September 2011

Echtleben


Foto: Thomas Schweigert

"Du solltest unbedingt das neue Buch von Katja Kullmann lesen", sagte ich kürzlich einer Freundin, während uns am wohl letzten Spätsommertag dieses Jahres bei Kaffee und Kuchen die ersten gefärbten Blätter um die Ohren wehten und wir über den Berufsstand der freien Journalisten diskutierten.

Sofort stand fest, das wir beide dieses Arbeitsmodell lieben, die Möglichkeit, sich seine Zeit und Arbeit frei einzuteilen und den Alltagstrott mit wechselnden Projekten und Unternehmungen zu bekämpfen. Die Möglichkeit. Denn nicht nur in Berlin ist es alles andere als leicht, sich als Vertreter der schreibenden Zunft eine gewisse Position zu sichern - nicht nur unterbieten Journalisten sich Honorartechnisch gesehen häufig gegenseitig ("Es gibt immer jemanden, der es für noch weniger machen würde"), auch Auftraggeber haben in dieser Hinsicht nicht immer Anstand. Es muss eben an allem gespart werden, fangen wir doch bei den Freien an.

Dennoch kämpfen wir für dieses Ideal, womit wir wieder bei Katja Kullmann wären, selbst Journalistin und Autorin und bekannt mit allen Höhen und Tiefen dieses Berufs. In ihrem neuesten Streich "Echtleben" - für den ich dicke Augenringe in Kauf genommen habe, weil ich bis spät in die Nacht am Buchrücken klebte - thematisiert sie vor allem die sich so rasant ausbreitende und besonders in Berlin allgegenwärtige Zunft der Kreativen, die dem Arbeitsmodell von Anno Pief aka. Festanstellung auf Lebenszeit zwecks selbstbestimmten Leben entsagt haben. Dass das oftmals nur funktioniert, wenn Papi monatlich das Konto füllt oder Onkel Hartz regelmäßig zu Besuch kommt, wird geflissentlich verschwiegen (Wofür die Autorin sich selbst als Fallbeispiel nutzt).

Das eigene Leben wird so schnell zur Inszenierung, die berühmten Theaterstücken Konkurrenz machen würde, man muss um jeden Preis die Form bewahren. Das "Echtleben", wie Kullmann es nennt, geht darüber verloren. Da hilft auch das rostfreie Nudelsieb aus Edelstrahl von Manufactum ("Es gibt sie noch, die guten Dinge") für 80 Euro nicht weiter, ebenso wenig Holunder-Bionade oder angedötschtes, wahnsinnig authentisches Fallobst aus dem Reformhaus. Aber was wollen wir eigentlich genau vom Leben?

Es ist mit der letzten Seite nicht ganz geklärt, worauf dieses Buch letztendlich hinaus möchte - lieber die pseudo-hippe Freiberufler-Existenz ohne nennenswerte Einkünfte verfolgen oder mit Mann, Kind, Hund und 13. Jahresgehalt aufs Land ziehen? - dafür machen die 255 Seiten von "Echtleben" unglaublich viel Spaß. Nicht nur einmal habe ich leise "Ja genau! So ist es!" gerufen.


Katja Kullmann: "Echtleben". Eichborn Verlag, 2011. Hardcover, 255 Seiten, 17,95 Euro.

3 Kommentare:

teresa hat gesagt…

Interessant Empfehlung; das will ich jetzt auch lesen!

Dass es kein klares Statement am Ende gibt, find ich viel realitätsnäher - wir wissen es doch eigentlich auch alle besser und versuchen, uns trotzdem durchzuschlagen. Man weiß ja nie, vielleicht hat man ja auch Glück und landet an der richtige Stelle. Meinst du nicht?!

Fräulein Julia hat gesagt…

Klar, ich bin derselben Meinung - sonst würde ich ja nicht als Freie arbeiten. Und das auch noch gerne! :)

Nina hat gesagt…

Liebe Julia, Danke für Deinen Kommentar und den Tipp! Das Schöne ist: als Freie haben wir (oder ich derzeit...) eher die Zeit und Muse zu lesen und in den Spiegel schauen wir eh ständig, umso schöner in Form von Schrift. Ich bin gespannt, wo sich Pauer und Kullmann ähneln. Herzliche Grüße aus der Heimat!