Sonntag, 5. Dezember 2010

Alice und ich



"Ach, mein Lieber, ich bin es leid, Alice im Wunderland zu sein. Klingt das undankbar? Gewiss. Aber ich bin es wirklich leid."

Wie fühlt es sich wohl an, als reale Vorlage für eine der bekanntesten Kinderbuch-Charaktere aufzuwachsen? Für Alice Liddell, Tochter des bekannten Dekans des Christ Church College der Universität Oxford, ist es schlichtweg eine Belastung - zumindest dann, wenn man es mit den Worten der Autorin Melanie Benjamin nimmt, die sich in ihrem Roman Alice und Ich mit der Lebensgeschichte des Mädchens bzw. der Frau auseinandergesetzt hat, die durch ihren fiktiven Sturz in das Kaninchenloch quasi unsterblich wurde.

In vielen Fällen stützt sich Benjamin dabei auf historische Fakten: Alice Liddell wuchs tatsächlich zur Blütezeit des Victorian Age in der altehrwürdigen Universitätsstadt Oxford auf, erlebte eine behütete, aber von strengen Regeln und vor allem einengender Kleidung gezeichnete Kindheit. Zu dieser kleinen, gelegentlich fast schon kitschpostkartenartigen Welt gehört auch Lewis Carroll, der eigentlich Charles Ludwig Dodgson heißt, Mathematik unterrichtet und fürchterlich stottert. Er ist es, der die Liddell-Mädchen an einem heißen Sommertag mit auf eine Bootstour nimmt und ihnen zum Zeitvertreib eine Geschichte erzählt - Alice's Adventures Under Ground entstehen. Wer sich mit der Materie auskennt (ich habe über die Alice-Bücher übrigens meine Magisterklausur geschrieben), erfährt an dieser Stelle - bis auf ein wenig prosaisches Drumherum - wenig neues.

Aber darum geht es der Autorin gar nicht: Sie rückt die Person der Alice Liddell in den Vordergrund. Denn - und auch das wird in der anglistischen Sekundärliteratur ausführlich diskutiert - Dodgson war mehr als nur ein phantasievoller Märchenonkel. Er hatte eine Schwäche für kleine Mädchen, und zwar insbesondere für Alice. Benjamin beleuchtet daher besonders die Szene, in der Dodgson Alice als Zigeunermädchen ablichtete, mit zerrissenem Flickenkleidchen und schmutzigen Füßen und nutzt sie als Ausgangspunkt für den Rest der Geschichte.

Was geschah an diesem Nachmittag wirklich? Und was geschah in den folgenden Wochen und Jahren, in denen Alice eine Schwärmerei für den kauzigen Professor hegte, der mal eben zwanzig Jahre älter ist? Ziemlich abrupt untersagt die Familie Liddell dem Autor letztendlich den Kontakt zu ihrer Tochter, der Ruf des Mädchens scheint ruiniert und so wird auch aus der Hochzeit mit Prinz Leopold (ein wohl eher erfundener Seitenstrang) nichts. Alice heiratet aus Not, wird vierfache Mutter, altert - und bleibt für ihre Leser doch immer das kleine, unschuldige Mädchen, welches naiv aber selbstbewusst mit kiffenden Raupen und manischen Grinsekatzen kommuniziert.


Das man es hier nicht mit einer literaturwissenschaftlich-präzisierten Interpretation der Beziehung zwischen Autor und Märchenfigur, Dodgson und Alice Liddell, zu tun hat, sollte klar sein, sobald man das Buch in der Hand hält. "Seit wann liest du denn Fantasy-Romane?!", fragte mich eine Freundin etwas überrascht, als ich ihr das gold und blau glänzende Cover des Buches zeigte. Für ein verschneites Wochenende, wie es hier in Berlin momentan an der Tagesordnung ist, eignet sich der knapp 400 Seiten starke Schmöker dagegen sehr gut - und dass ich mich, als passionierte Anglistin, ob der Darstellung Carrolls als allzu lüsterner und sabbernder Pädophile gelegentlich ziemlich geärgert habe, rücken wir jetzt einfach mal in den Hintergrund.

Herzlichen Dank an den C.Bertelsmann Verlag!

7 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

"dass ich mich ... ob der Darstellung Carrolls als gelegentlich allzu lüsterner und sabbernder Pädophile gelegentlich ziemlich geärgert habe" - das ist einer der punkte, die mich immer wieder ärgern.
im ganzen hört sich das buch aber schon interessant an, darum danke für die rezi! :)

Fräulein Julia hat gesagt…

Naja, das er pädophil war, ist ja tatsächlich nicht ganz von der Hand zu weisen, aber an manchen Stellen war es einfach zu schmierig dargestellt...

Anonym hat gesagt…

ich weiß ja, aber irgendwo hab' ich mal was gelesen, das war dann auch in einer unerträglichen art & weise dargestellt...
aber so 100% im thema bin ich dann auch nicht, um da wirklich urteilen zu können, ich denke sowieso, dass das nicht möglich ist.

Anonym hat gesagt…

toller buchtipp - danke! ich habe vor ewiger zeit mal eine ausstellung mit seinen fotos gesehen und fand es faszinierend caroll mal aus einer ganz anderen perspektive zu sehen.

Christina hat gesagt…

Hast du deine Klausur bei Herrn Wetzel geschrieben? ;)

Fräulein Julia hat gesagt…

Christina, nee, bei Herrn Prof. Baumann in der Anglistik. Bei Wetzel hätte ich mich zu stark mit dem Lolita-haften der kleinen Alice auseinandersetzen müssen... ;)

Christina hat gesagt…

ja, sonst hättest du bei ihm wohl auch nicht bestanden ;)