Donnerstag, 27. Juni 2013

//In all den wunderbaren Jahren//

Hat sich Berlin in den letzten Jahren so sehr verändert - oder bin ich einfach erwachsen geworden? 

Ich war gerade im zweiten Semester an der Universität Bonn als ich mich entschloss, für ein paar Monate nach Berlin zu gehen und dort zu arbeiten. Eine WG mit vier verrückten Jungs, deren Sofa ich bereits zuvor häufiger belegt hatte, beherbergte mich für die ersten Tage. Mit einem Koffer voller Klamotten und Büchern stieg ich in der ehemaligen Hauptstadt in den Zug Richtung aktueller Hauptstadt, bereit für ein Abenteuer, vielleicht auch mehrere. Bereits bei meinen Besuchen zuvor hatte mich die Stadt fasziniert: hier schien alles möglich. 

Die Straßen pulsierten vor Kreativität und Lebenslust, ich begann mit dem Kaffee trinken und tanzte die Nächte durch in illegalen Clubs in den Kellern heruntergekommener Altbauhäuser, die kurze Zeit später Platz machen mussten für glitzernde Car-Lofts. Ich lernte einen Schauspieler kennen, der diesen Sommer ausschließlich barfuß laufen wollte und mich auch ohne Schuhe zu Lesungen begleitete. Während ich die Tage in einem kleinen Büro mit Blick auf den Wannsee verbrachte und Bücher rezensierte, gehörten die Nachtstunden dem gepflegten Exzess: Mehrere Abende in der Woche verbrachte ich in der "Astro Bar" auf der mittlerweile zum Berliner Ballermann mutierten Simon-Dach-Straße in Friedrichshain und vertrank das Frei-Kontingent meines Mitbewohners, der dort täglich Cocktails mixte. 

Nach Ende seiner Schicht schnappten wir uns Wolldecken und schlichen in einem Haus am Boxhagener Platz auf den Dachboden, öffneten die Dachluke, kletterten die Leiter hoch und genossen die unschlagbare Aussicht über den Kiez und über die Stadt. Ein paar Kilometer weiter funkelte der Fernsehturm, während wir uns auf das Sofa kuschelten, das neben einer Fernsehantenne stand, und in den Sonnenaufgang blinzelten. Es war eine Zeit der kleinen, erreichbaren Träume, der wann-wenn-nicht-jetzt-Mentalität. Morgens um 5 Uhr Pizza backen? Aber ja, warum nicht? Wir saßen in der krümeligen Küche der Chaos-WG und schnippelten Tomaten: "An einem Morgen um halb fünf / sind wir hier in einem Raum / wir sehn' uns an / dabei reden wir kaum" sangen 2raumwohnung - "Frühling 2007 / wir können alle andern sein" - 2007, wie weit weg schien dieses Jahr, wir lebten im Hier und Jetzt! 


"Minimal Techno? Nie wieder!"


Ich zog in ein eigenes WG-Zimmer, 25qm, knarrende Dielen, ein gluckernder Ofen, breite Flügeltüren, Doppelfenster und bröselnder Stuck, knapp 200 Euro im Monat. Kein Internet, kein Telefon, aber wer braucht das schon, dazu ein Mitbewohner, der mit Vorliebe in Unterhose durch die Wohnung schlurfte - die Diplomarbeit schien ihm die Kraft für das tägliche Anziehen genommen zu haben. Ich verliebte mich in einen Filmstudenten und verbrachte die Sommernächte mit Rotwein auf seinem Balkon, während sein Nachbar sich die Nase auf einem prunkvollen Barockspiegel blutig kokste und mir danach ungefragt seine Lebensgeschichte aufdrängte. "Minimal Techno? Nie wieder!", schrieb ich damals in mein Tagebuch, welches ich "Berlin-Logbuch" nannte und das mich noch heute zum Lachen bringt. Dann schon lieber Drum'n'Bass: Ich war sofort angefixt von diesem Sound, der sich in rhythmischen Klangwellen durch meinen Körper ergoss und meine Kopfhaut zittern ließ. Wie tanzt man eigentlich dazu? "Is' doch völlig egal!", schrie mein Bekannter über die Musik hinweg und schüttelte wild mit seinen Dreadlocks; sein Tanzstil erinnerte ein wenig an karibische Voodoo-Zeremonien. 

"It was the best of times, it was the worst of times", denke ich rückblickend, denn Geld war Fehlanzeige, man freute sich darüber, das eine große Portion Spaghetti zum Mitnehmen bereits für 2 Euro zu haben war und der nahe liegende Lidl so hübsch psychedelisch verpackte Köstlichkeiten bereithielt, die unser schmaler Geldbeutel finanzieren konnte. Wo sind diese Zeiten hin, frage ich mich gelegentlich; hat sich Berlin so sehr verändert - oder bin ich es, die anders geworden ist? Schon längst hat der Alltag geordnete Bahnen erzwungen, aus denen ein regelmäßiger Ausbruch nicht möglich ist, die Billig-Nudeln ersetze ich gerne durch Bio-Essen aus dem brandenburgischen  Umland. Ausufernde Nächte in Bars rächen sich mit überdimensionalen Augenringen und tagelanger Katerstimmung.

Und doch übt diese Stadt noch immer eine derartige Faszination auf mich aus, dass ich keine Minute bereut habe, mein Leben endgültig hierhin verlegt zu haben: Vergangenen Winter stand ich mit Freunden auf der Dachterrasse eines seit 1982 besetzten Hauses in Kreuzberg, es herrschten Minusgrade, doch an der knisternden Feuerschale war es warm; ich goß mir ein weiteres Glas Rotwein ein, während ein paar Meter entfernt auf der Oranienstraße unzählige Polizisten auf einen krawalldurstigen schwarzen Block trafen: Steine flogen, Autos brannten und drinnen tanzten die ehemaligen Hausbesetzer wild und expressiv zu "Lambada". 

Und ich dachte: Berlin never ceases to amaze me.

Meine ehem. Mitbewohner auf einer Party in einem abbruchreifen Haus in Mitte

14 Kommentare:

Fee ist mein Name hat gesagt…

Schön geschrieben. Eine solche Welt kannte ich nie und ich weiß auch nicht, ob das was für mich gewesen wäre aber ich finde es total spannend darüber zu hören :)!

frau_k_aus_hh hat gesagt…

ich wünschte, bielefeld wäre in der zeit nur halb so inspirierend gewesen, wie dein text! <3
liebe grüße, nun aus hamburg.
anja

Ninia LaGrande hat gesagt…

Toller, toller Text!! <3

Fräulein Julia hat gesagt…

Danke ihr Drei, das bedeutet mir viel! :)

stefanie hat gesagt…

Sehr toller Text, der mich an die Anfangszeit in dieser Stadt erinnert: München. Nur Mitbewohner hatten keine lila Leggins.

Falk hat gesagt…

Ich habe mehr oder weniger die gleichen Erfahrungen gemacht, mit dieser damals wunderbaren und heute immer noch wunderbaren, nur leider irgendwie anders wunderbaren Stadt. Danke, schöner Text.

Mariella (Bridgekeeping Traveller) hat gesagt…

Schön, Julia!! Für mich kam "mein Berlin" erst viel später, nicht mal in Zeiten des kleinen Büros am Wannsee hatte ich so eines, wie du es hier beschreibst - aber den Schluss kann ich auch unterschreiben. It never ceases to amaze me.

Fräulein Julia hat gesagt…

@Mariella, aber das Büro am Wannsee hat zumindest das Berlin-Bild von uns beiden ein bisschen geprägt, oder? Ebenso wie die mitternächtliche "Puderzucker"-Episode im Lovelite, an die ich immer noch gerne zurückdenke... ;o)

Anonym hat gesagt…

Was für eine schöne Liebeserklärung!

Anonym hat gesagt…

sehr toll und sehr treffend geschrieben! und es stimmt schon, die stadt ist nicht mehr die gleiche. wir aber auch nicht. und vielleicht passt es genau deshalb immernoch :)
liebe grüße!

Fräulein Julia hat gesagt…

@holunder: Du hast Recht. Ich denke immer: Ist Berlin plötzlich ruhiger geworden? Aber eher bin ICH ruhiger geworden... ;)

Earny from Earncastle hat gesagt…

ein toller Text! und eine spannende (Lebens-)Geschichte. interessant zu lesen wie und was sich alles ändert. bestimmt sind es Berlin und du selbst auch.

Anonym hat gesagt…

Herrliche Realsatire!
Kein Klischee, keine Binse, die Zugezogene gerne bringen, ausgelassen (illegale Clubs, Ost-Charme usw.).
"Die Straßen pulsierten vor Kreativität und Lebenslust".
Oder meinst Du das etwa alles ernst?

Fräulein Julia hat gesagt…

Liebes Anonym, was fasziniert dich denn an dieser Stadt?

Mittlerweile sind viele andere Dinge (die ganzen Seen und die Kunstszene z.B. - oder ist dir das auch zu klischeehaft?) hinzu gekommen, die das Leben in Berlin für mich lebenswert machen. Damals, als 20jährige, faszinierte mich in erster Linie der Lebensstil, der so viel ungezwungener als in einer aufgeräumten westdeutschen Stadt wie Köln war.