Montag, 12. März 2012

William Boyd: Eine große Zeit



Als der neue Roman von William Boyd Eine große Zeit auf meinem Redaktionsschreibtisch landete, war ich entzückt: Um das Wien der Jahrhundertwende, Künstlerkreise, Theater und Psychoanalyse sollte es darin gehen, um die "Erkundung der Tiefen menschlicher Psyche", behauptete der beigelegte Waschzettel. Leider wirkt das Ergebnis über viele Seiten hinweg langweilig und kulissenhaft - und vor allem irgendwie nicht stimmig.

Hätte Boyd sich doch an den einen Erzählstrang gehalten und daraus eine eigene Geschichte gemacht: Lysander Rief, mittelerfolgreicher Schauspieler aus London, bricht die Zelte in der Heimatstadt ab, um sich in Wien - was man in dieser Stadt eben so macht - einer Psychoanalyse zu unterziehen, wenn auch nicht bei Freud himself (den er allerdings flüchtig im Kaffeehaus trifft, natürlich). Rief hat Orgasmusprobleme.

Während der englische Dr. Bensimon gerade dabei ist, dem jungen Mann einen Ödipus-Komplex anzudichten, trifft dieser auf die impulsive Künstlerin Hettie Bull, die den verklemmten Lysander mit einem lasziven Wimpernschlag überredet, für sie nackt Modell zu stehen - und ihn, quasi als Honorar, von seinen sexuellen Problemen heilt. Dass sie ihn danach bei der Polizei der Vergewaltigung bezichtigt und ihm ein Kind anhängt, sei jetzt nur nebenbei erwähnt.

Denn ruckzuck verlassen wir mit Lysander das schöne Wien und geraten mitten hinein in den zweiten Erzählstrang: Weil sie ihm damals zur Flucht aus Österreich verhalfen, verpflichten drei britische Offiziere den Schauspieler kurzerhand für eine heikle Spionage-Aktion in Genf. Und dann wird es recht hanebüchen, wenn Lysander zwischen platter Kulissenschieberei mit wenigen Handgriffen an die benötigten, höchst brisanten Informationen kommt, stets zur rechten Zeit am rechten Ort und mit allerlei geschickten Tricks ausgestattet, die ihm ganz zufällig einfallen. Dass seine Orgasmusprobleme längst Schnee von gestern sind, wird uns immer wieder vor Augen gehalten, wenn Mr Rief wie ein triebgesteuerter Hanswurst jedem hochgepumpten Dekolleté hinterher gafft und - die Analogie zu James Bond kommt sicher nicht von ungefähr - die werten Damen verschleißt wie austauschbare Manschettenknöpfe.

Natürlich, wir reden hier nicht von hoher Literatur und für einen verregneten Sonntag auf dem heimischen Sofa eignet sich Eine große Zeit ganz gut. Dennoch ist es ärgerlich, den Roman als eben jene tiefgründige Seelen-Erkundungsreise vorgesetzt zu bekommen und dann auf allerlei blasse Charaktere zu treffen, die - bis auf wenige Ausnahmen - so tiefgründig sind wie eine handelsübliche amerikanische Sitcom. Wien, Freud, London, 1.Weltkrieg - Herr Boyd, da hätte man soviel mehr draus machen können!

William Boyd: Eine große Zeit. Berlin Verlag, 446 Seiten, Gebunden, 22,90 Euro.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Liebe Julia,
danke für deine Rezensionen, es ist schön, mal in einem so "gemütlichen" Rahmen wie deinem Blog neuere Bücher vorgestellt zu bekommen.
Ich kann aus den Neuerscheinungen dieses Jahres "Das Wiesenhaus" von Christoph Schmitz empfehlen, ich mochte es sehr!
Grüße, Sanni

Fräulein Julia hat gesagt…

Hallo Sanni,

danke für den Tipp, auch wenn ich momentan nicht auch noch in meinen Büchern mit dem Thema Krebs konfrontiert werden möchte :/