Dienstag, 12. Oktober 2010

Rabenmutterliebe



Wer 50 lange Jahre die Frage mit sich herumträgt, warum ihn die Mutter als Kleinkind in der Wohnung zurückgelassen hat, um in den Westen zu flüchten, der geht daran früher oder später kaputt. Oder schreibt sich das ganze Gefühlswirrwarr von der Seele - im Falle Peter Wawerzineks ist so mit "Rabenliebe" ein über 400 Seiten starker Brocken aus Gefühlen und Gedanken entstanden, welcher dem Leser einiges abverlangt.

Das liegt zum einen an dem nicht gerade leicht verdaulichen Inhalt: Der Autor wird als Kleinkind von der Mutter verlassen, kann halb verhungert und verdurstet noch gerade aus der zugemüllten Wohnung gerettet werden. Es folgen verschiedene Kinderheime, die sich vor allem durch emotionale Kälte und fest geschriebene Rituale auszeichnen und nur wenig Platz für individuelle Kindheitserfahrungen lassen - erst mit vier Jahren beginnt Peter zu sprechen. Nach zwei gescheiterte Adoptionsversuchen gelangt er sprichwörtlich in die Fänge eines vom Sozialismus vollkommen überzeugten Lehrerehepaars. Persönliche Entfaltung ist auch hier - glaubt man den Erinnerungen Wawerzineks - nicht gerne gesehen. Erst mit über 50 Jahren schafft der Autor es, seine Mutter zu besuchen. Die empfängt ihn mit den Worten "Da bist du ja" - Einsicht zeigt sie nicht.

Dass dieses Buch dem Leser noch länger nachhängt, liegt zum anderen aber auch an der überwältigenden Prosa, die der Autor mit der vollsten Kraft seiner Phantasie und seines Wortschatzes hier vor uns ausbreitet. Das ganze Buch ist durchzogen von Sprachspielen, Wortassoziationen, Neologismen, Kinderreimen und Märchenbruchteilen, die den Lesefluss gelegentlich ziemlich erschweren. Die meiste Zeit jedoch fügen sie sich wie Puzzleteile nahtlos in den Gedankenstrom des Autors ein und verdichten den Text zu einem unbeschreiblich überwältigenden - und für Liebhaber der deutschen Sprache sehr angenehmen - Gesamtkunstwerk. Selten habe ich derartig großartige Sätze gelesen!

Mit dieser Meinung bin ich übrigens nicht alleine: In diesem Sommer erhielt der Autor für seinen autobiographischen Roman den Ingeborg-Bachmann-Preis.

2 Kommentare:

Fee ist mein Name hat gesagt…

mmmh, das interessiert mich jetzt...

stephi hat gesagt…

möchte es sofort lesen ... danke für den tip!